Die verlorenen Schafe zurückführen
Das Leben Jesu, S. 436-438
Nachdem Ernie Knolls Sünde öffentlich gemacht wurde, beachteten diejenigen, die weggingen und Ernie als einen falschen Propheten verurteilten, nicht den nachfolgenden Rat. Wir müssen daran denken, dass wir alle gesündigt haben und Gottes erstaunlicher Gnade bedürfen.
„Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Unvermögen tragen und nicht uns selber zu Gefallen leben.“ Römer 15,1. Niemand, der an Christus glaubt, sollte geringgeschätzt werden, mag sein Glaube auch schwach sein und seine Schritte unsicher wie die eines kleinen Kindes. Durch all das, wodurch wir anderen gegenüber im Vorteil sind — z.B. Erziehung, Bildung, Charaktergröße, christliches Verhalten, religiöse Erfahrung — sind wir Schuldner der weniger Begünstigten. Soweit es in unserer Macht steht, sollen wir ihnen dienen. Sind wir stark, dann sollen wir die Hände der Schwachen stützen. Engel der Herrlichkeit, die jederzeit das Antlitz des Vaters im Himmel schauen, freuen sich, diesen „Kleinen“ dienen zu dürfen. Furchtsame Seelen, die noch unangenehme Wesenszüge an sich haben, sind ihnen besonders anvertraut worden. Die Engel sind immer dort anwesend, wo sie am dringendsten gebraucht werden, bei denen, die am härtesten gegen das eigene Ich kämpfen müssen und deren Umgebung am trostlosesten ist. An diesem Dienst sollen die wahren Nachfolger Christi teilhaben.
Falls sich einer dieser Kleinen dazu hinreißen lässt, dir Unrecht zuzufügen, dann ist es deine Aufgabe, ihn wieder zurechtzubringen. Warte nicht, bis er den ersten Versuch zur Versöhnung unternimmt. „Was meint ihr?“ fragt Jesus. „Wenn irgendein Mensch hundert Schafe hätte und eins unter ihnen sich verirrte: lässt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, geht hin und sucht das verirrte? Und wenn sich‘s begibt, dass er‘s findet, wahrlich, ich sage euch, er freut sich darüber mehr als über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind. Also ist‘s auch bei eurem Vater im Himmel nicht der Wille, dass eins von diesen Kleinen verloren werde.“ Matthäus 18,12-14.
In der Gesinnung der Sanftmut, die darauf achtet, „dass du nicht auch versucht werdest“ (Galater 6,1), geh zu dem Irrenden und „halte es ihm vor zwischen dir und ihm allein“. Matthäus 18,15. Setze ihn nicht dadurch der Schande aus, dass du andern sein Vergehen unterbreitest. Verunehre Christus nicht dadurch, dass du die Sünde oder den Irrtum eines Menschen, der den Namen Christi trägt, der Öffentlichkeit preisgibst. Oftmals muss man dem Irrenden offen die Wahrheit sagen; er muss veranlasst werden, seinen Irrtum einzusehen, damit er sich ändern kann. Du bist aber nicht dazu berufen, ihn zu richten oder zu verurteilen. Versuche auch nicht, dich selbst zu rechtfertigen, sondern hilf ihm, sich zu bessern. Seelische Wunden müssen besonders rücksichtsvoll und mit äußerstem Feingefühl behandelt werden. Nur eine Liebe, wie sie von dem Leidensmann auf Golgatha ausstrahlt, kann hier helfen. Voller Mitleid soll der Bruder mit dem Bruder umgehen, und er darf wissen, dass er im Falle des Erfolges eine „Seele vom Tode erretten und ... eine Menge von Sünden“ bedecken konnte. Jakobus 5,20.
Doch auch diese Mühe mag nutzlos sein. In solchem Falle sagte Jesus: „Nimm noch einen oder zwei zu dir.“ Matthäus 18,16. Möglicherweise hat ihr gemeinsamer Einfluss dort Erfolg, wo der einzelne erfolglos geblieben war. Da sie in der Auseinandersetzung neutral sind, werden sie wahrscheinlich auch unparteiisch handeln. Dadurch aber erhält ihr Rat bei dem Irrenden größeres Gewicht.
Will er jedoch auch auf sie nicht hören, dann, aber auch erst dann, soll die Angelegenheit der Gesamtheit der Gläubigen unterbreitet werden. Die Gemeindeglieder als Stellvertreter Christi sollen sich im Gebet vereinen und in aller Liebe darum bitten, dass der Missetäter sich bessern möge. Der Heilige Geist wird durch seine Diener reden und den Irrenden auffordern, zu Gott zurückzukehren. Der Apostel Paulus sagt im Auftrage Gottes: „Gott vermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott!“ 2.Korinther 5,20. Wer diese gemeinsamen Vorschläge ablehnt, der hat das Band zerrissen, das ihn mit Christus verknüpfte, und sich von der Gemeinde losgesagt. Hinfort, so sagt Christus, „sei er dir wie ein Heide und Zöllner“. Matthäus 18,17. Man soll aber nicht meinen, dass er damit von der Gnade Gottes abgeschnitten sei. Seine bisherigen Brüder sollen ihn nicht verachten oder vernachlässigen, sondern ihn mit Güte und aufrichtigem Mitgefühl behandeln — wie ein verlorenes Schaf, das Christus noch immer zu seiner Herde zurückzuführen sucht.
Die Lehre Christi, wie man Irrende behandeln soll, wiederholt in besonderer Form die Unterweisung, die Israel durch Mose erteilt wurde: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich ladest.“ 3.Mose 19,17. Das bedeutet, dass jemand, der die von Christus eingeschärfte Pflicht vernachlässigt, Irrende und Sünder auf den rechten Weg zu bringen, ihrer Sünde teilhaftig wird. An Übeltaten, die wir hätten verhindern können, sind wir genauso mitschuldig, als hätten wir sie selbst begangen.